Das Bundesverfassungsgericht schafft Klarheit: Die bisherige Bemessung der Regelsätze ist menschenunwürdig.

04.03.2010: Mechthild Rawert, MdB: Das Bundesverfassungsgericht schafft Klarheit: Die bisherige Bemessung der Regelsätze ist menschenunwürdig. Die Zukunft von Kindern darf nicht von der Dicke des Portemonnaies der Eltern abhängen

Familien klagen vor dem höchsten Gericht Deutschlands gegen zu geringe soziale Leistungen und bekommen Recht. Das ist ein großer Sieg. Während die CDU am Tag der Verkündung das Urteil begrüßt, kritisiert ihr Innenminister Thomas de Maiziere die Entscheidung einen Tag später. Seiner Meinung nach zeige das Urteil eine problematische Tendenz hin zu einer übertriebenen Einzelfallbetrachtung statt einer vernünftigen Pauschalisierung. Das Bundesverfassungsgericht (BVerG) äußert sich mit seinem Urteil in aller erster Linie zur Bemessungsart und sagt dabei zunächst wenig über die Höhe der Sozialleistungen. Die FDP will das Arbeitslosengeld II gleich abschaffen und fordert eine Zusammenfassung aller staatlichen Leistungen in einem sogenannten Bürgergeld. Eines ist sicher: Wir SozialdemokratInnen werden nicht hinnehmen, dass CDU und FDP durch irgendwelche Hintertüren den Bedarf für die Sozialschwachen in unser Gesellschaft kleinrechnen.

Viel politische Bewegung ist erforderlich - und das ist gut so. Das BVerG-Urteil macht Gesetzesänderungen nötig, die zum 01.01.2011 in Kraft treten müssen. Erforderlich ist eine transparente, nachvollziehbare und sachgerechte Ermittlung des tatsächlichen Bedarfs für Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen (sogenannte Hartz-IV-Empfänger). Da sich die Regelleistungen für Bedarfsgemeinschaften und Kinder derzeit noch vom Regelsatz für allein stehende Erwachsene ableiten, müssen auch die Regelsätze für Kinder neu hergeleitet werden.

Das Gerichtsurteil ist ein Erfolg für all diejenigen, die schon in den vergangenen Jahren auf eine eigenständige Grundsicherung für Kinder gepocht haben. In der Realität wird es vor allem ein Gewinn für die vielen alleinerziehenden Mütter und Väter, vor allem aber auch für viele Menschen im Niedriglohnsektor. In diesem arbeiten 70 Prozent der Frauen. Das Gerichtsurteil ist auch ein Erfolg für all diejenigen, die sich dagegen verwehrt haben, dass PolitikerInnen und "Stammtische" aus populistischen Gründen mit der Senkung der Grundsicherungsbeiträge drohen oder gar mit dem Aussetzen der sozialen Leistungen z.B. für vermeintlich "faule" Erwerbslose.

Urteilsentscheidung

Am 9. Februar hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Grundgesetz den Staat verpflichtet, die Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur "Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind". Die bisherigen Regelleistungen sowohl des Arbeitslosengeldes II für Erwachsene als auch des Sozialgeldes für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres genügen dem Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht. Dazu gehört neben Mitteln für Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Sehr zügig, also bis Ende dieses Jahres, müssen neue Berechnungen erfolgen. In Ausnahmefällen wie etwa bei Krankheiten, für die Kranken- und Sozialkassen heute keine Kosten übernehmen oder für Besuche getrennt lebender Mütter und Väter bei ihren Kindern, werden ab sofort zusätzliche Leistungen fällig.

Was die Neumessung von Regelsätzen für BezieherInnen von ALG II angeht, so geben ExpertInnenen richtigerweise zu Bedenken, dass durch die Neubemessung der Abstand zwischen ALG II und Arbeitseinkommen verringert wird. Untersuchungen der letzten Jahre haben ergeben, dass sich für viele gering qualifizierte ALG II Beziehende mit Kindern bereits heute eine Erwerbsarbeit im Niedriglohnsektor kaum lohne. Das muss verhindert werden.

Mindestlöhne sind das "A" und "O"

Mit diesem Urteil kommt zugleich wieder eine starke Bewegung in die von der SPD angetriebene Diskussion um die Mindestlöhne. Das BVerG stellt in seinem Urteil auf die Wahrung der Menschenwürde ab: Wenn sich Arbeit lohnen soll, das heißt, Arbeitslöhne deutlich über den Bedarfssätzen für die Transferleistungen liegen sollen, muss es einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen geben, der auch ArbeitnehmerInnen mit Kindern ermöglicht, ohne Transferleistungen der Bundesarbeitsagentur ihr Leben zu bestreiten. Wer Vollzeit arbeitet, muss ein existenzsicherndes Einkommen erzielen, mit dem sie oder er oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegt. Arbeit muss sich lohnen - von Erwerbsarbeit muss Mensch in Würde leben können. Wir SozialdemokratInnen wollen diesen gesetzlichen Mindestlöhne für alle Branchen.

Die Wirklichkeit als Maßstab

Vor allem für die Kinder schafft das Urteil Klarheit. In Berlin lebt jedes dritte Kind von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld. Ihre Zukunft darf nicht von der Dicke des Portemonnaies der Eltern abhängen. Nun ist es gewiss: Die statistische Bemessung der Regelsätze für Kinder darf nicht nur eine mathematische Ableitung der Regelsätze für Erwachsene sein. Vielmehr muss sich die Berechnung an der Lebenswirklichkeit der Kinder selbst orientieren.

Natürlich ist die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern mehr als eine Geldleistung, doch Geld macht Vieles erst möglich: Schon das Schulbedarfspaket in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr für bedürftige SchülerInnen bis zur 13. Klasse, welches die SPD gegen den anfänglichen Widerstand der Union durchgesetzt hat, war ein Ansatz, die unzulänglichen Regelsätze zu ergänzen. Aufgrund einer Sonderauswertung zum kinderspezifischen Bedarf wurde für 6 bis 13jährige auch ab dem 01. September 2009 der Grundsicherungsbezug um 35 Euro pro Monat erhöht. Wir wollen ein Gemeinwesen, eine Infrastruktur, die allen Kindern und Jugendlichen dient. Die Talente eines Kindes sind schließlich nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig, wohl aber die Förderung und ihre Verwirklichung. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Geburtstag dient allen Kindern. Die in vielen sozialdemokratisch regierten Bundesländern schon vorhandene oder geplante Gebührenfreiheit für die Kitas, das kostenlose warme Mittagessen, die Lernmittelfreiheit, die Gebührenfreiheit für das Studium, all das kommt Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zugute. Wir SozialdemokratInnen nehmen nicht hin, dass Besserverdienende über den Kinderfreibetrag mehr Geld für ihre Kinder erhalten als Normalverdienende. Das ist unsozial und unakzeptabel.

Armut ist vor allem auch Armut an Teilhabe

Klar ist, dass Kinderarmut mit einem pauschalen Bargeldtransfer alleine nicht bekämpft werden kann. Kinderarmut ist Armut an Teilhabe an der Gesellschaft, an guter und gesunder Ernährung, an Bildung, Musik und Sport. Kinder brauchen zudem Vorbilder und fördernde Familienstrukturen. Der beste Schutz vor Kinderarmut ist eine existenzsichernde Arbeit der Eltern. Nicht nur mehr Geld, sondern eine gezielte Förderung von Kindern ist der richtige Weg. Die skandinavischen Staaten machen uns das vor. Die SPD setzt deshalb auf eine gute, bedarfsgerechte und kostenfreie Bildung- und Betreuungsangebote für Kinder im Vorschulalter sowie den Ausbau von Ganztagsschulen. Ein kostenfreies Mittagessen gehört dazu. Der Zugang zu Kultur und Sport darf kein Privileg von Kindern mit besserverdienenden Eltern sein. Jedes Kind hat das Recht auf freie Entfaltung. Die SPD fordert zudem Kinderregelsätze sowie auf sie zugeschnittene Einmalleistungen.

Sozialdemokratie steht für Gerechtigkeit

Die Bundesregierung ist aufgefordert, im Interesse von 6,5 Millionen LeistungsempfängerInnen im SGB II, davon ca. 2 Millionen Minderjährigen, und ca. 1,13 Millionen LeistungsempfängerInnen im SGB XII, davon 25.000 Minderjährige, schnellstmöglich die notwendigen gesetzlichen Änderungen vorzunehmen, um die sozio-kulturelle Teilhabe am Leben in Deutschland für alle zu garantieren.

Dieses Urteil bedeutet ein Appell an jede seriöse Regierung, Steuersenkungspläne in den Orkus zu schicken. Aber Schwarz-Geld macht keine seriöse Regierungspolitik. Mit den von ihnen schon getätigten und noch geplanten Steuersenkungsplänen wird die Schere zwischen Arm und Reich noch vergrößert. Für uns SozialdemokratInnen gilt: Finanziell schwächer gestellte Menschen dürfen nicht als Sparschweine zur Erfüllung schwarz-gelber Steuersenkungswünsche für Einkommensstarke und Reiche genutzt werden!

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