„Unsere“ Bürgerversicherung

23.12.2010: Von Mechthild Rawert, MdB

Das Konzept Bürgerversicherung wurde auf dem Bochumer Bundesparteitag 2003 und nach einem umfassenden Bericht durch Andrea Nahles 2004 vom SPD-Parteivorstand beschlossen. Im Wahlkampf 2005 als auch 2009 haben wir dafür gekämpft, ohne dass großartige konzeptionelle Weiterentwicklungen erfolgt waren.

Den BürgerInnen standen seitdem zwei Welten zur finanziellen Absicherung im Krankheitsfall gegenüber: Erstens: Die der Union und FDP mit der einkommensunabhängigen Kopfpauschale, Ausbau der Trennung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung und dem Umbau Richtung kapitalgedeckter, damit individualisierter Versicherungsformen. Zweitens: Die Welt der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke (jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten), die Konzepte der Bürgerversicherung mit einer für alle BürgerInnen einheitlichen Pflichtversicherung und einkommensabhängigen Beiträgen („starke Schultern tragen mehr“), der zunehmenden Aufhebung der Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung bei gleichem Zugang zu allen Leistungen des medizinischen Fortschritts und hoher Versorgungsqualität favorisierten. In der großen Koalition haben beide Lager einen Kompromiss geschlossen: Zusatzbeiträge für die Union, die Versicherungspflicht für alle für die SPD und der Gesundheitsfonds als Möglichkeit, ab 2009 das jeweils eigene Konzept durchzusetzen. Die jetzigen Regierungsgewinner sind bekannt.

Entrümpelung und/oder Überrumpelung

Ziel der am 02. Juli 2010 konstituierten Projektgruppe Bürgersozialversicherung ist sowohl die Weiterentwicklung des SPD-Finanzierungskonzeptes der Bürgerversicherung im Gesundheitswesen als auch die Entwicklung eines Leitbilder der Bürgersozialversicherung für alle großen Sozialversicherungszweige.

Die Projektgruppe hat zuerst in einem Presse-Hintergrundgespräch mit zwei Tage später erfolgender Presseberichterstattung als auch in zwei zeitgleich versandten Schreiben an Partei- bzw. Bundestagsmitgliedern über ihre „ersten Zwischenergebnisse“ informiert. Da Berechnungen zu den „Zwischenergebnissen“ noch nicht vorliegen und eine Information an die Mitglieder der AG Gesundheit der SPD-Bundestagsfraktion durch ihren Sprecher erst am 20 Januar erfolgt, sind Bewertungen misslich. Fakt ist aber, dass diese „Zwischenergebnisse“ in wesentlichen Punkten eine Abkehr zu bisher geltenden Parteibeschlüssen darstellen, u.a.:

1. „Starke Schultern tragen mehr“

Bis dato sollte das Beitragssystem ausgebaut und durch die Ausweitung auf andere Einkommensarten und die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze mehr Einnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung bringen. In den Zwischenergebnissen wird nun wie bei der Gesundheitsprämie auf ein steuerfinanziertes Modell verwiesen - welcher Art Steuer ist mir nicht bekannt. Laut Spitenverband der gesetzlichen Krankenkassen liegt der steuerliche Anteil an den gesamten Ausgaben 2010 bei rund 11,5 Milliarden Euro. Keine Äußerungen sind bekannt zur einheitlichen (?) Beitragshöhe, der Beitrag selber soll aber wieder paritätisch von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen gezahlt werden.

2. „Einheitliches Krankenversicherungssystem“

Mittelfristig sollte die Trennung von PKV (häufig Beamte, Selbständige und Gutverdienende) und GKV aufgehoben werden und nur noch ein gemeinsames Krankenversicherungssystem existieren. Gemäß „Zwischenergebnisse“ sollen in Zukunft beide Versicherungsformen fortexistieren, die Privaten bieten in ihren Geschäftsbedingungen ebenfalls den Bürgerversicherungstarif an, die Altersrückstellungen in der PKV bleiben unangetastet. Erleichtert wird der freiwillige Wechsel in die GKV, sofern dieser für die Versicherten günstiger ist.

3. „Sicherheit für eine hohe Versorgungsqualität“

Gegen eine Zwei-Klassenmedizin, gegen Differenzierung beim Zugang und im Wartezimmer, gegen unterschiedliche Versorgungsqualitäten ist jedes Modell der Bürgerversicherung.. Dafür Sorge tragen soll nun ein einheitliches Honorarsystem in der Höhe oberhalb des jetzigen gesetzlichen und unterhalb des jetzigen privaten für die LeistungserbringerInnen im stationären als auch den ambulanten Sektor. Wir wollen Gerechtigkeit und Solidarität im Gesundheitswesen auf Einnahme- und Ausgabenseite. Die umlagefinanzierte solidarische Krankenversicherung hat in der Finanz- und Wirtschaftskrise ihren Stresstest hervorragend bestanden - anders die kapitalgedeckten Versicherungsformen der PKV, wo die Versicherungsunternehmen riesige Verluste zu verzeichnen hatten. Mir ist das Pampern der PKV daher nicht einsichtig. Unklar ist mir die zukünftige Rolle der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen.

Schon bei der Diskussion zur Gesundheitsreform 2007 und vor allem zur schwarz-gelben 2010 haben wir vehement darüber gestritten, inwieweit ein Weiterbestehen bzw. eine Stärkung der bipolaren Versicherungsordnung in GKV und PKV durch Änderungen im (deutschen bzw. europäischen) Kartellrecht zu Lasten der GKV erfolgt, obgleich diese über 70 Millionen Mitglieder und die PKV nur gut 8,2 Millionen Mitglieder hat. Hohe Bedeutung hat nun mal die nationalstaatliche Bindung an das Europarecht und hier vorherrschende Rechtseinsichten auch zum Gemeinwohl bzw. zur Daseinsvorsorge. Hoch sind derzeit meine Befürchtungen, dass wir uns in Richtung Niederländisches Modell bewegen. Dort

  • gibt es eine Versicherungspflicht für alle mit einem gesetzlich festgelegten Standard-Leistungspaket,
  • sind Anbieter gesetzliche Krankenkassen (die sich auch zu privaten Anbietern umfunktionalisieren können) und private Krankenversicherungsunternehmen, die z.B. Gewinne auch an ihre Gesellschafter auszahlen können,
  • ist der Wettbewerb unter den Versicherern groß, Änderungen der Kasse bzw. des Versicherungsunternehmen sind jährlich möglich,
  • kann jeweils individuell gewählt werden, ob das Sachleistungsprinzip oder „Vorkasse“ oder eine Kombination von beidem vereinbart werden.

Das ist auf jeden Fall nicht mehr das solidarische und umlagefinanzierte System wie wir es bis dato kennen und für das wir gekämpft haben.

Überzeugung politischer Freunde und WählerInnen Bei der Bekanntgabe der Zwischenergebnisse der Projektgruppe wurde der Weg gewählt: erst die Öffentlichkeit und dann die Parteimitglieder bzw. die SPD-Bundestagsfraktion. Ich bin schon sehr gespannt auf die diesbezüglichen Diskussionen in der SPD-Bundestagsfraktion am 13./14. Januar in Magdeburg. Zumindest die GesundheitspolitikerInnen zeigten sich „zurückhaltend begeistert“ über die bis dato nicht bekannten Elemente des SPD-„Systemwechsels“ und der offenkundigen Abgrenzung zum Modell des DGB, welches wenige Tage zuvor vorgestellt wurde. Mit dem neuen Modell sollen „die mittigen Wählerschichten“ überzeugt werden und das „Verhetzungspotential“ - Abzocke der Mittelschicht - reduziert werden. Schon im Januar soll eine umfangreiche Kampagne starten, um Bürgerinnen und Bürger über „unser“ Konzept zu informieren - ich frage mich, auf welcher Grundlage? Sehr gut, dass wir es in Berlin z.B. bei der Erstellung des Wahlprogrammes wirklich völlig anders machen und auf den Zusammenhalt und den Kenntnisreichtum der Parteimitglieder setzen.

  • Seite bei Twitter teilen
  • Seite bei Facebook teilen
  • Seite bei Google bookmarken
  • Seite bei Live bookmarken
Nachrichten