Wie wird aus Anspruch Wirklichkeit? 9 Thesen zur Situation der Berliner SPD

21.01.2010: Von Mark Rackles

Umfragewerte um die 20% können uns bekanntlich nicht erschüttern, weil Stimmungen nicht Stimmen sind, wie Polit-Profis zu sagen pflegen. Ein Blick auf eben diese Wählerstimmen sollte uns jedoch ernsthaft aufrütteln: schon unserem „guten“ Ergebnis bei den Abgeordnetenhauswahlen 2006 von knapp 31% lag in absoluten Zahlen ein Verlust von 60.000 Stimmen zugrunde. 2009 verloren wir nochmal knapp 80.000 Berliner; knapp 350.000 Berliner und Berlinerinnen gaben 2009 bei den Bundestagswahlen der SPD noch ihre Stimme. Gegenüber 2005 ein Einbruch um 290.000 Stimmen. Das ist eine ernstzunehmende Entwicklung, die an Dramatik gewinnt, wenn man berücksichtigt, dass Umfragen die SPD (Bund und Berlin) stabil im 20%-Loch verhaftet sehen, die Grünen sich strukturell als fast gleichstarke Kraft – insbesondere in den Städten – etabliert haben und die Zustimmungswerte des Berliner Zugpferds Wowereit deutlich eingebrochen sind und nicht mehr stabilisierend wirken.

Weder der rot-rote Senat noch die Berliner SPD können vor diesem Hintergrund weitermachen wie bisher. Das liegt weniger an konkreten Fehlern als vielmehr an Abnutzungs- und Überdrusserscheinungen, die sich offensichtlich fast unweigerlich nach fast 10 Regierungsjahren bei Akteuren, Medien und Bevölkerung einstellen. Aktuell kritisieren die BürgerInnen an der Berliner SPD „fehlende Bürgernähe“ (24 Prozent), „fehlende klare Linie“ (18 Prozent), „Koalition mit den Linken“ (15 Prozent) und den „Regierungsstil Wowereits“ (14 Prozent). Senat, Fraktion und Partei werden sich wieder stärker mit dem Lebensalltag „der“ BerlinerInnen verknüpfen müssen, wieder erkennbare Linien und Anliegen im Sinne der Stadt definieren müssen und einen offenen und beteiligungsorientierten (auch zuhörenden) Regierungsstil pflegen müssen. Koalitionsfragen stehen jetzt nicht an, aber ab 2011 sollten wir uns darauf einstellen, dass typische Zweier-Koalitionen eher der Vergangenheit angehören dürften und eine gleichwertige inhaltliche und persönliche Anschlussfähigkeit zu der Linkspartei und zu den Grünen in der Hauptstadt bestehen muss.

Wenn wir unseren Anspruch als Hauptstadt- und Volkspartei ernsthaft geltend machen wollen und in Form von Meinungsführerschaft und Mehrheitsfähigkeit Wirklichkeit werden lassen wollen, dann müssen wir vor 2011 einige unangenehme Fragen aufwerfen und ehrlich beantworten. Zur Beförderung der notwendigen Diskussion folgen hier einige persönliche Thesen zur Situation der Berliner SPD und zu der Frage, wie aus unserem Anspruch Wirklichkeit werden könnte.

1. Klaus Wowereit ist die notwendige aber nicht hinreichende Bedingung für einen Wahlerfolg 2011.

Seine neue Doppelrolle als Bundes- und Landespolitiker muss sich ergänzen und darf nicht als Defizit empfunden werden. Die Herausforderung, als „Landesvater“ und „Kümmerer vor Ort“ wahrgenommen zu werden, ist mit der Rolle in der vermeintlich fernen und abgehobenen Bundespolitik nur zu vereinen, wenn ein Profil in beiden Rollen zu erkennen ist.

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2. Die langjährige und einseitige Ausrichtung auf ein Alphatier birgt auch Gefahren für die SPD:

seit Jahren wird es versäumt, systematisch Nachwuchskräfte in der Partei zu fördern und gezielt in Fraktion und im Senat aufzubauen. Der Einsatz von parteilosen Senatsmitgliedern auf der Senatoren- und Staatssekretärsebene mag im Einzelfall begründbar sein, im Ergebnis reduziert es jedoch die personellen Entwicklungspotentiale und Ressourcen der Berliner SPD. Die Reduzierung der Stadträte und der Mandate tut ein übriges. Die SPD muss eine systematische Personalentwicklung betreiben, die nicht zuletzt dem steigenden Konkurrenzdruck und der Gefahr der Atomisierung in persönliche Karriereinteressen entgegenwirken muss.

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3. Der Senat ist bei aller fachlicher Eignung nur bedingt geeignet, das aktuelle Bedürfnis nach mehr Schwung, Aufbruchstimmung und Gestaltungsansprüche über 2011 hinaus mit Personen zu unterlegen.

Das betrifft die Linkspartei wie die SPD und ist weniger eine Frage des Durchschnittalters als der eingeschliffenen Rollen, Reflexe und dem nicht immer ersichtlichen von Leidenschaft geprägten und auf Taten ausgerichteten Teamgeist. Wenn weder die denkbaren Möglichkeiten der Umbildung noch Erweiterung (Verfassungsänderung) genutzt werden, dann stellen sich besondere Anforderungen an den Wahlkampf 2011, wenn wir den vierten Wowereit-Senat mit Erneuerungssignalen und Gestaltungsanspruch bis - mindestens - 2016 verbinden wollen.

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4. Jenseits des Senats sind jedoch auch die eingespielten Beziehungen und Netzwerke in Fraktion und Partei ein Problem.

Einzelne Akteure kennen sich bzw. hadern schon seit 20 Jahren. Die Flügel – auch die Linke – haben ihre festgefügten Rollen, Stichworte und Rituale, es entsteht wenige Neues bzw. Überraschendes. Das gerade in Berlin nötige Maß an Unkonventionellem, an Quergedachten und an Überraschendem kann sich unter diesen Bedingungen kaum entwickeln. Hier sind kurzfristige Veränderungen kaum zu erwarten (man könnte sich aber mal flügelübergreifend ein zentrales Thema wie z.B. Integrationspolitik vornehmen, gegen den Strich bürsten und mal sehen, was dabei herauskommt), ein wechselseitig erhöhtes Problembewußtsein könnte hier aber schon helfen. Und für Überraschungen sollte Berlin eigentlich immer gut sein...

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5. Ein höheres Maß an Leidenschaft, an Empathie, neuen Gesichtern und überraschenden Debatten läuft jedoch ins Leere, wenn Senat, Fraktion und Partei nicht mit klaren Leitthemen verbunden werden.

Man muss uns abnehmen, dass uns diese Stadt am Herzen liegt, wir eine Vorstellung (Vision) der Zukunft Berlins haben und wir dies an zwei bis maximal drei Kernthemen festmachen können. Nach Lage der Dinge und der langfristigen Zuschreibung von Kompetenzen liegen diese strategischen Klammern im Bereich Bildung und soziale Gerechtigkeit. Es kann nicht darum gehen, alle Monate ein neues Stichwort wie Demographie, Klimaschutz, Integration ohne nachhaltige Bearbeitung zu platzieren sondern es muss um eine zwischen Senat, Fraktion und Partei abgestimmte Schwerpunktsetzung gehen, die alle Mandats- und Funktionsträger der Partei mit Leben und Aktivitäten füllen.

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6. Neben dem kommunikativ wichtigen Klammern ist jedoch die Anforderung an die konkrete und alltagsorientierte Problemlösungskompetenz nicht zu unterschätzen.

Wenn die S-Bahn nicht fährt, der Schnee nicht geräumt wird oder die Sportstunden ausfallen, dann muss es ebenso Chefsache sein können, wie die - notwendige - Präsenz beim Filmfest oder das Werben um Großinvestoren. Hier liegen ungenutzte Potentiale einer verbesserten Vernetzung mit den bezirklichen Mandats- und FunktionsträgerInnen: man könnte auf wöchentlicher Basis jedes Quartal in jedem Bezirk mit dem Regierenden Bürgermeister gemeinsam ein konkretes, überschaubares Problem angehen (der Brunnen ohne Wasser, Sperrmüll in den Straßen, fehlende Straßenbeleuchtung im Umfeld eines Seniorenheims etc.).

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7. Die SPD muss sich den „digitalen Themen“ und den entsprechenden – eher jungen – Milieus öffnen.

Das umfasst die Ausweitung sozialdemokratischer Grundwerte und Programmsätze auf unser Verständnis von Freiheitsrechten (Datenschutz) sowie auf neue gesellschaftliche Ausgrenzungstendenzen (digitale Spaltung), Fragen der Teilhabe durch digitale Zugänge (kostenloses WLAN, Archive, Bibliotheken, Barrierefreiheit) und einen erweiterten Begriff der Daseinsvorsorge (Gewährleistung Netzinfrastruktur, Zugang und Sicherheit). Der Erfolg der Piratenpartei – insbesondere bei den ErstwählerInnen – ist ein deutliches Warnzeichen, dass dieser Bereich zwischenzeitlich eine wichtige Dimension einer Großstadtpartei geworden ist.

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8. Die klassische Kommunikation über Printmedien ist in Berlin für die SPD nur sehr schwer entwicklungsfähig.

Dies ist z.T. durch die vermachteten Strukturen im Medienbereich bedingt, zum Teil durch Übersättigung und Veränderung der Lesegewohnheiten der Bevölkerung, zum Teil sicherlich auch durch veränderte Mediennutzung (Bedeutungszuwachs TV und Internet). Da die Gestaltungsmöglichkeiten im redaktionellen Teil und mit Anzeigen aus unterschiedlichen Gründen sehr begrenzt sind, stellt sich die Frage, ob das Land nicht ernsthaft prüfen sollte, ein Printmedium im Berliner Zeitungsformat aufzulegen und stark mit regionalisierten Ausgaben (in Zusammenarbeit mit den Kreisen) zu arbeiten. Der Ressourceneinsatz ist heute deutlich geringer als vor wenigen Jahren (Druck/ Gestaltung/ Bildrechte etc.) und mit den heutigen Drucktechniken sind regionale Ausgaben kosteneffizienter zu produzieren. Ein Printmedium – i.S. eines besseren „grünen Stachels“ – wäre ein wichtiges Instrument zur Erhöhung der Wahrnehmbarkeit und bezirklichen Präsenz der SPD. Dies könnte zugleich die Arbeit der Abteilungen, Kreise, BVV-Fraktionen und Wahlkreisabgeordneten aufwerten.

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9. Als Träger der politischen Arbeit müssen die Abteilungen und Kreise wieder stärker aktiviert werden.

Das könnte ggf. auch dadurch erreicht werden, dass auf Landesebene stärker als bisher ein Budget für die politische Arbeit der Abteilungen und Kreise im Sinne einer öffentlichkeitswirksamen Projektarbeit vorgesehen wird. Dies dürfte nicht zu Lasten der bisherigen Finanzzuweisung durch Umschichtung erfolgen, sondern müsste Ressourcen vom Land gezielt und projektbezogen insbesondere auf die Abteilungen umverteilen. Ein solcher Projektfonds müsste in einem einfachen Antragsverfahren zur Verfügung stehen und nebenher der Identifizierung von best-practice-Projekten dienen.

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